Eine neue Unbekannte – Україна, die Ukraine
Strecke: (Ungarn – Vynohradiv – Khust – Solotvyno – Rumänien)
Von der Ukraine habe ich im Vorfeld einiges gehört. “Man kann da schon rüberfahren und günstig tanken, wenn man die Grenzpolizisten nicht leer ausgehen lässt.” So in dieser Art vielen auch andere Äuserungen der Ungarn über ihr Nachbarland aus.
Der Grenzübergang scheint für alle ein etwas unangenehmes Pflaster zu sein. Hier ist der Umgangton im Allgemeinen etwas rauer. So lese ich es aus den Gesichtern hinter den Scheiben. Man muss lange warten, sich durchsuchen lassen, evtl. mit dem Geldbeutel nachhelfen.
Das sind meine Vermutungen, ob das so ist, kriege ich nicht mit. Mit meinem exotischen Gefährt werde ich an der Auto-Schlange vorbei gewunken.
Ich verstehe nichts, von dem was mir gesagt wird, die Gesichter sind mir gegenüber etwas verstört aber freundlich gestimmt und ich bekomme einen Einreise-Stempel.
Dann noch eine Station, ein Grenzbeamter mit Maschinengewehr, der die Autofahrer einweist. Vorsichthalber halte ich da nochmal an und frage ob ich landeinwärts fahren kann. “… , kaput!!” ist seine Antwort.
Ich verstehe nur “kaput!” und einen Pfeifton, “du kannst abschwirren”.
Was ist kaput? Die Straßen, das Land, ich soll kaput gehen?
Ich bin etwas verstört, und fahre einfach los ins neue Unbekannte.
(Erst später in Rumänien erfahre ich, dass „kaput“ auf ukrainisch so viel wie “fertig” / “zu Ende” heißt. In den ersten Dörfern, die an meiner Strecke liegen, werden die Häuser behelfsmäßg in Schuss gehalten. Oder kurz: Es fehlt an Geld für die Instandhaltung.
Auf den wenigen geteerten Straßen ist heftiger Verkehr. Pferdefuhrwerke werden von den neuesten BMW- und Mercedes-SUVs überholt. Alte rostige Ladas und qualmende Sowjettrucks ergänzen das Straßenbild.
Zum Teil stehen die Vehikel kurz vor dem Auseinanderfallen, alles was fährt darf fahren. Stoßstangen und Glasscheiben fehlen, geflickt wird mit Klebeband und Folie.
Auf der andern Seite kommen mir viele neue gepflegte Limousinen und protzige Mercedes-LKWs entgegen, wie sie in Deutschland allerorts zu sehen sind.
Die Straßen werden zur Tortur. Das „Schlaglochspiel“ ist ganz ähnlich wie das Inselhüpfen (in der Grundschule). Nur Wasser und Land sind vertauscht, und einen Fehler kann ich theoretisch mit dem Leben bezahlen.
Das Spiel besteht darin, möglichst ununterbrochen die heranbrausenden LKWs im Rückspiegel, die Straße vor mir und das steil abfallende Parkett rechts, im Auge zu behalten und dabei möglichst allen tiefen und mitteltiefen Schlaglöchern und Rillen auszuweichen.
In Ungarn lag ich schon mal nachts quer auf der Straße und hatte Glück das kein Auto hinter mir war.
Am Anfang “hab ich Schiss“ vor den Rasern, die mit an die 100 Sachen durch die Ortschaft heizen und den Gegenverkehr vor mir überholen. Später schüttele ich nur lachend den Kopf, es gibt ja eh nur eine Ausweichmöglichkeit, und das wäre der Straßengraben zu meiner Rechten.
Bahnübergänge sind durchgehend personalbesetzt. Die Wärterin sitzt auf einem Bänklein vor dem Häuschen. Weil der Übergang bei den Schienen so holprig ist, drosseln die Monster-LKWs ihr Tempo auf Schrittgeschwindigkeit. Ganz zahm kriecht die LKW-Schlange über die Gleise.
Spätestens in der Ukraine sind rasante Bergabfahrten für den Radfahrer gestrichen. Ich kann den steilen Berg runter nur 15 km/h fahren wegen den Löchern, die ohne Übertreibung bis zu 25cm tief sind.
Ein Fehler könnte Jeden Moment den Totalschaden für mein Liegerad bedeuten.
Mein Schutzblech bricht zum zweiten Mal, auf einer dieser Straßen. Ein netter Mann hilft mir bei der Reparatur gegen eine kleine Spende.
Ich fahre durch Dörfer, in denen etwa jedes siebte Haus verfallen oder einsturzgefährdet ist. Für den Besucher aus Deutschland sieht es zum Teil aus, wie in der Nachkriegszeit. Eine raue Piste geht durchs Dorf, rechts und links stehen die Häuser mit bröckelnden Fassaden, dazwischen Bauruinen, die seit Jahren nie zu Ende gebaut worden sind. Manche Einfahrten bestehen nur aus Lehm und Pfützen.
Dem allem zum Trotz zeigen sich Land und Leute die mit ihrem sonnigen Gesicht.
Die Menschen sind freundlich und begeistert vom Liegerad!
Zwei Jugendliche folgen mir mit dem Roller, spornen mich an mit voller Kraft in die Pedale zu treten und geleiten mich aus der Ortschaft hinaus.
Viele Verkehrsteilnehmer winken und rufen mir zu. Es ertönt die selbsteingebaute Sirene und die Gesichter der Kinder sind dicht an die Fensterscheiben gepresst.
In den Dörfern stehen im Nu die älteren Herren um mich herum. Ich erkläre auf Deutsch die Funktionen am Liegerad, mit Kopfnicken werde ich ganz grob verstanden und verabschiede mich mit einem Reihum-Händedruck.
In einem Dorfladen kriegt sich die junge schüchterne Verkäuferin gar nicht mehr ein, weil sie es nicht glauben kann, dass sich ein Tourist aus Deutschland hier her verirrt hat.
Der Feldwegvergleich:
Deutschland:
- fein gesplittet
- gröberer Splitt und Grünstreifen in der Mitte
Ukraine:
- Pfützen, tiefe Furchen, grobe Kiesel wie am Donaustrand
- dann mal komplett Land unter, nur noch eine große Wasserlache über die gesamte Breite des Wegs
- links und rechts ein schmaler Grünstreifen auf dem ich mein Liegerad an der Seenlandschaft vorbeischieben kann
Ich blicke mich etwas genauer in einer ländlichen Gegend um. Dabei muss ich feststellen, dass die langsamen Gewässer zum Teil tot und verseucht sind. Die Flüsse sind vermüllt. Nach dem Hochwasser liegen die Ufer wieder frei und es hat sich ein Wald aus bunten, wehenden Plastikfahnen gebildet.
Die anstrengende Fahrt und der erste Tag in der Ukraine neigen sich dem Ende zu.
So viele Augenpaare lagen auf mir, so viele Schlaglöcher habe ich konzentriert umfahren, Staub klebt in meinen Augen, das Dröhnen und die Windstöße der dicht überberholenden LKW liegen mir in den Knochen.
Durch die allgegenwärtige Armut und von den vielen Eindrücken bin ich erschlagen.
An diesem Abend baut mich der Besuch bei Oleh und seiner Familie wieder auf. Ich habe über Couchsurfing Kontakt zu ihm aufgenommen…
Andreas Pyczak
Lieber Jonas,
vielen Dank für Deine eindrücklichen Reisebeschreibungen. Es ist toll, sie zu lesen und etwas von dieser mir so unbekannten Welt kennen zu lernen. Ich wünsche Dir ganz besonders Gottes Schutz und Segen in diesem chaotischen Straßenverkehr und weiterhin so tolle Erfahrungen mit den Menschen der Ukraine.
Liebe Grüße aus der Heimat
Andreas
Jonas Gachstatter
Danke Andreas!
Es freut mich, dass meine Zeilen Interessierte Leser finden!
Ich muss noch dazu schreiben, dass diese Erlebnisse zwar noch sehr lebendig in mir sind, jedoch schon einige Tage zurückliegen.
Weil die Tage so rasant vorbeigehn, vor allem wenn man noch was mit netten Leuten unternimmt, schaffe ich es erst um einiges später einen Bericht dazu zu schreiben.
Günter
Jonas, sehr interessant.
Jonas Gachstatter
Danke für die Rückmeldung Günther!
Kommt der Ausbau der S-Bahn zu eurem Haus gut voran?
Herbert Gachstatter
Deine Schilderung ist sehr bewegend. Mir fallen dazu spontan ein: Es gibt einerseits noch sehr viel zu tun, damit sich die Lebensverhältnisse in der Ukraine nachdrücklich verbessern. Dazu können die Länder des Westens bestimmt auch ihren Anteil leisten. Zum anderen ist es erstaunlich, dass Freundlichkeit und Zuwendung vielerorts an zu treffen sind.
Ich wünsch Dir weiterhin schöne Erlebnisse. Behüt’ Dich Gott vor den Gefahren – insbesondere des Verkehrs!
Herbert
Jonas Gachstatter
Hallo Papa,
da stimme ich überein, die Menschen in der Ukraine, haben einen ziemlich großen Nachholbedarf.
Was ich am Rande mitbekommen habe, ist, dass die Ukraine zur Zeit um einfachere Arbeitsvisa mit der EU verhandelt.
In Bratislava hab ich einen jungen ukrainischen Zahnarzt kennengelernt, der sich rießig auf seine neue Stelle in der Slowakai gefreut hat 🙂
Danke! Das gefährlichste auf dieser Reise ist auf jeden Fall der Verkehr!